Ferienzeit in Königswald

 Fritz Roeder

Die „Kerle”, der Schulbank enthoben, kraftstrotzende Lebensborne, wußten die Freiheit zu schätzen. Allenthalben trieben sie ihr Wesen und Unwesen. Die Mütter blickten sorgenvoll und abends gab es Hiebe, verabreicht von den schimpfenden Vätern, die natürlich in ihrer Jugend ganz anders gewesen waren, geradezu beispielhaft brav. Tagsdarauf war wieder alles vergessen, was Zucht und Lehre betraf und sein sollte, „man” ersann neue Unterhaltungsspiele. Beliebt war „Räuber und Schande” (Gendarm), das schon die ergrauten Großväter anno dazumal unterhaltsam fanden, wie das Versteckenspielen. Oder den Ei-Karl ärgern, kam er zufällig des Wegs, das war auch sehr beliebt oder den Schuster-Fritz eins auszuwischen. War es heiß, hatten der Schulteich nichts zu lachen und der Schwimmlehrer erst recht nicht. Da war was los !

Unterhaltsam und nützlich waren Ausflüge zum Schwarzgraben und seinem Lauf entlang. Storek Franz, ein Könner im Fang von Forellen unterwies uns. Aber die Forellen, diese blitzschnellen und gescheiten Tiere, kannten offenbar ihre , Pappenheimer"; schlau entwichen sie. „Bleib so liegen!” herrschte einmal ein Heger Pepi Storek an, der auf dem Bauche lag, den Oberkörper über dem spiegelklaren Wasser, den schlüpfrigen Flitzern unterm Moos nachstellend. Pepi fassungslos, kam nicht dazu aufzuspringen und wegzulaufen. Ergeben in das unabwendbare Schicksal, bekam er den A... vermöbelt, der ihm anderntags noch brannte. Aber die „klaren Wasser” lockten immer wieder. Klare Wasser ! Wo gibt es sie heute noch ? Da muß man schon hoch in die Berge steigen. Wie köstlich war es, den heißen Kopf in den kühlenden Wasserlauf zu tauchen und den Waldsprudel mit der Hand zu schöpfen und zu trinken.

Durch Ortsvorsteher Philipps Anwesen rann aus dem Walde, murmelnd kommend, ein solch „klares Wasser”. Der Graben hatte nicht mal einen Namen, aber ein Schöpfloch rückwärts im Garten und es waren Krebse darin und Fische. Philipps und Püschels schöpften ihren Wasserbedarf aus der Wasserleitung der Natur, auch die Manns, die nebenan ihr kleines verträumtes Häuschen hatten und weiter unten, schon nahe der Einmündung des Grabens in den Eulaubach, die Tischler-Jägers.

Im Eulaubach zu baden, bedeutete in den Zwanzigerjahren schon eine Mißachtung der Gesundheits- und Reinlichkeitsgebote. Zu viele Handwerks- und Fabrikunternehmen versündigten sich an dem einstmals klaren Bach und manche Dörfler freilich auch. Die Forellen und Krebse waren ausgerottet, dafür gab es Blutegel als Ausgleich, die sich uns Lausbuben an den Füßen oder Beinen festsaugten, waren wir aus, Ukl zu fangen, eine kleine Weißfischart, die mehr Gräten hatte als Fleisch. (Ukl = slawisch: Ukelei).

Sommer's trat ich mir mal eine Glasscherbe in den Fuß. Eine klaffende Wunde war die Folge. Dr. Leitenberger, der von einem Krankenbesuch kommend und noch nicht lange seine Arztpraxis aufgenommen hatte, sah meine Not, obwohl ich völlig harmlos, ja glücklich blickte und grüßte. Er nahm sich meiner an. Ich war keineswegs davon erbaut. Der Arzt damals bedeutete in unserer Vorstellungswelt nicht etwa Beistand und Hilfe; es überkam vielmehr dem Betreffenden ein Gefühl, ohnmächtig einem mit Messern und Zangen hantierendem Ungeheuer preisgegeben zu sein. Diese törichte Angst vor dem Arzt war auch die Ursache, daß die Königswälder ihn anfangs wenig beanspruchten. Freilich war es auch nicht umsonst, es wurde zu einer Gratiseinrichtung erst ab 1926, als die Rentenversicherung für Arbeiter und Krankenversicherung neu geregelt wurde.

Jeder Haushalt, der etwas auf sich hielt, hatte seine generationserprobten Hausmittel und Anwendungen, auf die man sich verließ, wurde eins krank in der Familie. Man lief da nicht gleich zum Arzt oder ließ sich ins Tetschner Krankenhaus bringen. Da wurden erst einmal Großmutters Rezepte ausprobiert, das war die Regel ! Die Praxis des Dentisten Hiebsch mied man auch. Dazumal faulten die Zähne auch nicht in diesem Maße wie heute. In den Wartezimmern dieser, der Heilkunde sich verschriebenen, herrschte noch gähende Leere. Da holte sich kein Arzt einen Herzinfarkt wegen Überforderung.

Mit meinem „Leibarzt” an der Seite rücke ich also in die Bannmeile unseres trauten Zuhauses. Meine Gefühle sind gemischter Art und ich hörte schon das „hohe C” der lieben Tante, von der ich immer umsorgt und gehegt wurde. Daß der Arzt dabei ist und ich hoffen darf, daß ihr Lamento - eben wegen der Respektsperson des Arztes - gedämpfter ausfallen wird, tröstete mich gering. Schon kam Tante ins Blickfeld. Mit wehenden Röcken und im Laufschritt. Sie hatte uns bereits gesichert, fuchtelte wild und stieß ängstlich klagende Laute aus, die nicht zu verstehen waren. Die Natur mußte sie mit übersinnlichen Kräften ausgestattet haben. Sie tauchte just immer in dem Augenblick auf, wo sie am wenigsten erwünscht war.

„Das ist meine Tante”, erklärte ich tonlos dem Arzt. „Und ich bin ihr Pflegesohn. Gleich wird sie die Hände über dem Kopf zusammenschlagen”. Das tat sie denn auch. Jahre später, als ich das Stadttheater in Bodenbach besuchte, dann und wann die ersten Tragödinnen erlebte, erinnerte ich mich schmunzelnd Tantes seelischer Ausbrüche. Auf der Bühne hätte sie damit Riesenerfolg gehabt.

Der Arzt, begreifend, daß er hier schlichten müsse, fiel der aufgelöst tuenden Tante ins Wort, die, einige Meter vor uns, ihren 100 m-Lauf beendete und sich zunächst in eine leidgeprüfte Person verwandelte. Das war auch oft geübt und bühnenreif.

„Der Bub hat nichts Böses getan, nicht Übermut war es, vielmehr widerfuhr ihm Böses, müssen Sie wissen!” Solcherart beschwichtigte mein Beistand, denn Tante hatte nach einer Verschnaufpause zu einer Ansprache angesetzt. „Ich werde ihm die Wunde nähen”, fuhr der Arzt unbekümmert fort „und verbinden”. - „Nähen?” sagte Tante mit vergehender Stimme und erbleichte. Der Arzt nickte. Daraufhin riß sie - oh Wunder - mich an ihr Herz, weinte, wobei sie eins ums anderemal schmerzzerquält hauchte: „Mein armer Neffe, du armer Junge.” Ich kam mir reichlich komisch vor. Aber irgendwie tat es gut. Anni, meine kleine Base, die viel vom Wesen ihrer Mama mitbekommen oder sich abgeguckt hatte, unterlag, das konnte nicht ausbleiben, ebenfalls einer tiefen Gemütswallung. Indes an ihre Brust pressen ließ ich mich nicht. Albernheit hatte Grenzen.

Nachdem beide meinten, ihr Bedauern ausgiebig kundgetan zu haben, schien es ihnen geboten, vorauszulaufen, um dem „Schwerverletzten” ein Lager zu richten. Hingestreckt auf die Ottomane im Wohnzimmer, die zu benutzen Tante großmütig erlaubte, ließ ich das weitere geduldig ergeben, fast gleichgültig über mich ergehen. Munter wurde ich erst, als meine liebe Erziehungsberechtigte mit der Flasche Arnika aufkreuzte, dem Allheilmittel der Familie.

„Nein, nein!” schrie ich wie am Spieß, das Luderzeug brennt doch so!" Mein Einspruch jedoch fand kein Gehör, ich mußte die Prozedur über mich ergehen lassen, zumal Dr. Leitenberger sie guthieß. Base Anni faßte beruhigend nach meiner Hand, die, ihr wieder zu entziehen, als das Nächstliegendste, ich mich nicht besann. Das höllische Weihwasser wurde mir schön auf die Wunde aufgetragen. Wegen der kleinen „Tiere”, Mikroben genannt und der besseren Heilung. Ich schwor, nie wieder Arnikablüten der Tante zu pflücken. Sie setzte die Blüten in Alkohol auf, und den daraus gewonnenen Absud verabreichte sie gegen alle Erkrankungen und Unpäßlichkeiten. Hatte mans im Hals, kriegten wir Kinder Arnika ins Gurgelwasser. Gingen die Winde nicht, wurde er auf Zucker geschluckt. Er half immer, sowohl gegen Durchfall als auch gegen Verstopfung, wie weiland das Aspirin beim Militär. Das war auch ein Mädchen für alles.

Als Dr. Leitenberger - nun unser Hausarzt - sich verabschiedete, die Besuchstasche in der Hand, in die Tante etliche frische Eier und ein Weckel Butter verpackt hatte, versicherte er, daß die Wunde bald heile und nur noch die Fäden zu ziehen seien.

Roßnaturen waren sie, die Königswälder, oder taten so, da mußte schon der Friedhof drohen. Allmählich aber wurden sie nacheinander doch Dr. Leitenbergers Patienten und auch der Dentist Hiebsch bekam mehr zu tun, denn ein stummelzahniger Mund stieß ab. Die Königswälder wurden eitel.

 

Quelle: Artikel aus "Trei da Hejmt",
   Mitteilungsblatt für den Heimatkreis Tetschen-Bodenbach/Sudetenland,
   26. Jahrg. Nr. 15/16; August 1973

letzte Aktualisierung am 08.04.2005