Die Ausweisung der Eulauer - Der weite Weg ...

R. L.

 

Ein neuer Morgen brach an. Wir hatten ihm unruhig und schlecht schlafend entgegengesehen. Denn es war inoffiziell bekannt, daß am heutigen Tage, dem 21. Juli 1945, die zweite Aussiedlung unseres Ortes stattfinden sollte. Als es dämmerte und wir, ohne eine brutale Störung zu erleben, erwachten, dachten wir voll Dankbarkeit "Gott sei Dank, daheim, vielleicht ist es doch nicht wahr, das Unfaßbare." Wir fühlten im Herzen ein dankbares Glück. Zu Hause !

Horch, Schritte ! Schon wurde mit einem harten Gegenstand an die Haustür gestoßen. Raus aus den Betten, flüchtig angezogen und mit vor Schwäche zitternden Beinen zur Tür geeilt. Svobodavci standen mit ihren Gewehren draußen, von einem höhnisch grinsenden Deutschen (welche Schmach !) geführt. Der deutsche Speichellecker, mit roter Armbinde und Gewehr "ausgezeichnet", bemühte sich radebrechend, den "Herren" gefällig zu sein. Weiße Bögen wurden uns überreicht, die Ausweisung ! "Binnen einer Viertelstunde gestellt sein !" rief laut und grob der Soldat.

Wir wankten zurück ins Haus, den Text zu lesen vermochten wir kaum, die Buchstaben verschwommen in der Tränenflut. Doch es war keine Zeit zur Rührung. Schränke und Schubfächer wurden aufgerissen, hastig gewühlt, gesucht und zusammengetragen. Nichts vergessen ! Wie lächerlich ! 30 Kilo Gepäck waren erlaubt mitzunehmen und nichts vergessen ?

Das Notwendigste war beisammen, auf den Handwagen gepackt -- und das Schwerste begann, der Abschied. Schnell noch die Tiere gefüttert, doppelte, dreifache Rationen warf man ihnen vor, Wasser nicht vergessend, dann wendete man sich schnell ab, denn das Herz drohte zu zerspringen.

Gut, daß man den Weg so gut kannte, daß man ihn im Traume gefunden hätte; die Tränen rannen aus den Augen und nahmen fast die Sicht. Entlang des Weges kamen Bekannte aus ihren Häusern und reichten uns stumm zum Abschied die Hand. Die Glücklichen ! dachten wir, nicht ahnend, daß den Zurückgebliebenen ein noch schwereres Los harrte. Leidensgefährten schlossen sich uns unterwegs an.

Endlich kamen wir auf dem sogenannten Evakuierungsplatze an. Früher wurden da Turnfeste veranstaltet, und wie oft hatte die Jugend hier froh gesungen. Heute herrschten Raub und Ausplünderung. Gesetz und Ordnung gab es nicht mehr. In vielen Fällen nahm man uns Deutschen das beste und letzte. Der Einfachheit halber wurde der ganze Kofferinhalt ausgeschüttet.

Verzweifeltes Schreien und Klagen, lautes Rufen, rohes Gelächter schallten über den Platz. 1200 Menschen wurden an diesem Tage ausgewiesen und sieben volle Plattenwagen der geraubten "Kleinigkeiten" fuhr man vom Evakuierungsplatz !

Die "abgefertigten" Deutschen, denen man Schmuck, Besitzurkunden und Spinnstoffe nach oft schamloser Durchsuchung abgenommen hatte, wurden zu einem rückwärtigen Tor getrieben, das auf die Landstraße führte. Wachposten ordneten laut brüllend die Wagenreihen, das Tor wurde geöffnet, der lange Menschenzug setzte sich in Bewegung.

Der Elendsmarsch begann.

Lange währte der Weg bis zur Landesgrenze. Heiß war der Tag. Erbarmungslos brannte die Sonne auf die müden Gestalten. Aus den Häusern entlang der Straße brachten mitleidige Deutsche Trinkbares. Manche klopften an ihren Handwageln, andere wechselten am Straßenrand die zu engen, besten Schuhe. Berittene und Zufußwachen trieben zur schnelleren Gangart an. Verzweifelte Menschen schritten für Augenblicke rüstiger aus, um bald wieder in den müden Trott zu verfallen.

Der steile Weg nach Tyssa hieß nicht umsonst "Auf den Himmel". Oft ruhte die Wagenkolonne, um neue Kraft zu schöpfen. Endlich erreichte der lange Zug die Höhe. Wie oft war das schöne Gebirgsdorf Tyssa unser Ausflugsziel gewesen. Heute hatte niemand einen Blick für seine Sandsteinfelsen, die es berühmt gemacht haben. Schwer waren die Herzen, und glühend heiß der Tag. Trostlos und müde zogen wir in eine ungewisse, unbekannte Zukunft. Die Soldaten gewährten eine kurze Rast. Jeder packte Brot aus, denn der Marsch hatte hungrig gemacht. Bald darauf zogen wir weiter.

Wie lang war Peterswald ! Gut, daß es bergab ging.

Die Grenze ! Wehmütige Gedanken und Erinnerungen wollten das ohnehin schwere Herz noch mehr belasten. Nicht nachdenken ! Nur weiter ! Und trotzdem stiegen uns heiße Tränen in die Augen, als sich die Wachen zum Rückmarsch wendeten und wir jenseits des Grenzpfahls, wie ausgestoßen aus der Heimat der Väter, standen. Weiter ! Wohin ?

In Hellendorf sanken wir ermattet in das Stroh einer Scheune. Dicht gedrängt und bunt zusammengewürfelt lagen die müden Leiber auf der Tenne. Täglich lauschten wir im Bauernhaus den Rundfunksendungen, hoffend, die Erlaubnis einer Rückkehr zu hören. Wie töricht ein hoffendes Herz doch ist !

Mutige wagten den nächtlichen Gang zurück, doch manche kamen nicht wieder. Die Grenzwälder verdeckten mit ihrem Rauschen ihre Todesseufzer. Wo liegen sie, die Leblosen ? Wo ist ihr Grab ? Wer war der ruchlose Mörder ? Die Wälder schweigen. Die Not und der nagende Hunger trieben trotzdem immer wieder zu dem verzweifelten Gang. Man holte sich bei Verwandten und Freunden Kartoffeln und Brot und brachte Gerüchte, Mutmaßungen und den Glauben mit, daß es bald wieder zurückgehen werde. Neuer Mut und neue Hoffnung kamen auf.

Die Neunmalklugen, die in ihrem Besitz zurückbleiben konnten, wagten: "Warum seid ihr denn gegangen ? Saht ihr nicht, daß der Evakuierungsschein nicht unterschrieben, sondern nur mit einem Stempel versehen war ?" Der Narodni Vybor hatte keine Übersicht. Am Montag nach der Evakuierung radelte ein ... von Haus zu Haus und machte Erhebungen, wer von den Einheimischen noch da sei ! Man brachte die Kunde mit, daß die ... die Häuser und Wohnungen ausplünderten und mit den Sachen fortfahren. So konnte es nicht weitergehen ! Es gibt bestimmt ein Zurück ! Unser Bürgermeister ließ uns sagen, "geht nicht weiter, bald schlägt die Stunde !"

Wir harrten, hofften und hungerten.

Ins Freie durften wir nicht, denn alle 24 Stunden sollten wir weiterziehen, aber wohin ? Von Dorf zu Dorf ? Menschen fluteten in die Grenznähe zurück. Sie waren mit dem ersten Transport im Juni abgeschoben worden, kamen nun aus Mitteldeutschland und berichteten, daß es dort noch chaotischer wäre. Im Grenzgebirge, in der Nähe der Heimat, sei es besser. Also ausharren !

Wochen vergingen. Wochen voll Hoffen und Zagen. Der Potsdamer Vertrag wurde unterzeichnet, unser Schicksal schien besiegelt zu sein. Der Bürgermeister Hellendorfs ließ alle Ausgesiedelten rufen und hielt uns eine Schmährede, als ob Fremde vor ihm stünden und nicht arme deutsche Brüder von jenseits der Grenze. Wir bebten vor Zorn und Scham. Man verjagte uns ! Traurig brachen wir auf und zogen weiter.

Das Lager in Graupa nahm uns auf. Endlich bekamen wir warme Suppe. Am nächsten Morgen tippelten wir nach Pillnitz und schifften uns mit unseren Handwageln nach Riesa ein. Hier angekommen, wies man uns als Unterkunft die Hallen und Baracken am ehemaligen Flughafen zu, doch wie sah es hier aus ? Verdreckte Baracken, alles demoliert und voll Unrat. Nachdem wir uns einen Schlafplatz gesichert hatten, putzten und räumten wir Frauen auf. Die Kartoffelsuppe, um die wir uns anstellten, war derart unappetitlich und schlecht, daß wir sie trotz bitteren Hungers weggossen. Kleinkinder starben damals vor Hunger und Not, denn ihnen wurde keine Kinderkost gereicht. Als wir uns am nächsten Gut Stroh für das Nachtlager holten, feierte man hier gerade das Erntedankfest. Uns mutete der satte Überfluß weh an, denn wir hatten furchtbaren Hunger. Dieser sprach wohl aus unseren Augen und mitleidige Seelen beschenkten uns mit Kuchen. Gierig bissen wir in das duftende Gebäck und meinten, noch nie etwas Besseres gegessen zu haben.

Da zu aller Not das Selbstkochen verboten war, griff der Selbsterhaltungstrieb zu Unerlaubtem. Weit hinter dem Flugplatz war ein Graben. Hier entzündeten wir zwischen zwei Steinen ein Feuer. Darauf kochten wir das Lucullus-Mahl, Kartoffeln, denn Erdäpfel mit Salz ist ein wunderbares Essen ! Der Eintopf, den wir erhielten, war trotz des großen Hungers nicht genießbar, so lieblos war er zubereitet. Woher wir die Kartoffeln nahmen, die wir wie Gold behandelten ? Der verständnisvolle Leser wird es erraten. Nicht gern denkt man an diese schwere Zeit. Aber was sollte man machen ? Selbst das Bettelngehen trug wenig ein, da die Einwohner vorsorglich ihre Häuser verschlossen. Und trotzdem gingen wir täglich betteln, klopften bescheiden an und baten höflich um etwas zu essen.

Manchmal traf man doch ein gutes, mitleidiges Herz. Hier in Riesa wurde eine evakuierte sudetendeutsche Bäuerin irrsinnig. Diese Bedauernswerte lebte tagelang zum Schrecken des ganzen Lagers unter uns, ehe sie in fachärztliche Betreuung kam.

Um aus dieser Trostlosigkeit einen Ausweg zu suchen, fuhr eine junge, furchtlose Frau mit der Bahn weiter und sah sich außerhalb des Lagers unsere Zukunftsaussichten an. Mit großer Spannung erwarteten wir ihr Zurückkommen. Müde und noch hungriger als wir kam sie nach Tagen wieder und berichtete: Bis Stendal sei sie vorgedrungen, doch überall das gleiche Bild. Desorganisation, Hunger und Flüchtlinge.

Neun Tage währte unser Aufenthalt in Riesa. Er glich einem Gang durch die Hölle. Doch wie alles vergeht, so hatte auch diese bittere Zeit ein Ende. Am zehnten Morgen herrschte ein Vorbereiten und Beladen der Handwagen, und um fünf Uhr setzte sich der lange Zug in Bewegung. Der ganze Flughafen wurde geräumt, denn schon waren wieder neue Transporte angemeldet.

An uns war der Befehl ergangen, uns auf dem Bahnhof zum Weitertransport zu stellen. Pünktlich waren wir erschienen. Nun standen wir in kleinen Gruppen in der Nähe unserer Lasten und diskutierten, doch das Gespräch verstummte mit der Zeit. Als der kühle Abend kam, warteten wir immer noch auf die Bereitstellung eines Zuges. Mit der Zunahme der Dunkelheit wuchs die Unruhe und Trostlosigkeit unter den vielen Wartenden, denn die Mehrzahl hatte keinen Bissen Brot. Kartoffeln konnten wir hier am Bahnhof nicht kochen, und zu essen verabreichte man uns nichts. Mir wurde so schlecht vor Hunger, daß die Umherstehenden vor Angst die Sanität riefen. Die Schwester kam: "Was fehlt Ihnen ?" "Ich bin heute noch nüchtern, darum habe ich solchen Hunger", gestand ich. "Das glaube ich schon, aber ich habe auch nichts zu essen, außer ein paar Waffeln", sagte die Frau vom Bahnhofsdienst. Sie schenkte mir diese. Kaum hielt ich sie in der Hand, war ich von Kindern umringt. Sie bettelten nicht, aber ihre großen Augen in grüngelben Gesichteln flehten: "Hunger !" Ich brach die Waffeln in Stücke und verteilte sie unter den Kindern. Selbst trank ich einige Schluck Wasser. Es war zum Weinen.

Schließlich wurde verkündet, daß heut kein Zug mehr eingesetzt werde. Die Nacht brach herein. Wo sollten wir bleiben ? Man nannte uns Baracken irgendwo außerhalb der Stadt. Jeder eilte, denn er wollte noch ein Ruheplätzchen finden. Unser alter Vater konnte nicht nach, auch wollte er noch in die Apotheke. Wir nannten ihm die Anschrift des Nachtlagers und eilten schnell voraus. Wir fanden die Unterkunft in einem derartig schlechten Zustand vor, daß diese eine Nacht, die wir hier verbringen mußten, die schlimmste der ganzen Reise war. Die ganze Nacht schlossen wir kein Auge, denn unser Vater hatte nicht zu uns gefunden. Vor Hunger und seelischer Überlastung war bei ihm Gedächtnisschwund eingetreten. Er konnte sich auf die ihm genannte Anschrift nicht besinnen. So irrte er bis Mitternacht in der Stadt herum, um dann bei der Polizei, auf dem Stuhl sitzend, ein wenig zu nicken. Erst am Morgen fand er uns.

Wir erhielten früh gute, heiße Erbsensuppe, die unsere Gemüter auftaute und mit neuer Hoffnung stärkte. Wieder auf den Bahnhof ! Um neun Uhr wurde uns ein Zug auf ein Sondergleis rangiert, und wir nahmen Platz. Wohin ? Niemand wußte es. Das war ein Raten, und alle träumten von den grünen Wäldern Thüringens.

Zu aller Enttäuschung hielt der Zug in Wurzen. "Alles aussteigen !" lautete der Befehl. Wieder bezogen wir ein neues Lager, diesmal war es ein dreistöckiger Schüttboden. Hier begegneten wir alten, hilflosen Altersheiminsassen. Es spielten sich herzerschütternde Szenen ab. "Es gibt etwas zu essen", diese Kunde war eine frohe Botschaft. Jeder eilte mit seinen Eßnapf zur Ausgabestelle. Gierig löffelten wir den Eintopf und rannten noch um gestrige Graupensuppe. Das war für viele das Verderben, denn die Suppe war angesäuert, und wer noch nicht an Durchfall litt, bekam ihn jetzt im schlimmsten Stadium.

Am folgenden Tag ging die Reise weiter. Wieder ein Raten um das "Wohin ?". Am Ziel wurde uns ein Saal als Lager angewiesen. Bei einem Bauern holten wir uns Stroh, doch es war dumpfig. Aber Brot wurde verteilt, Brot ! Nach langer Zeit die erste Schnitte. Alle waren wieder froher.

Hier begann eine große Fragebogen-Ausfüllerei, die Entlausung folgte, eine lächerlich oberflächliche ärztliche Untersuchung, dann kam für viele der entscheidende Tag: die Aufteilung in die Nachbarortschaften. Es gab Kampf und Streit, denn Bekannte, Freunde und Nachbarn wollten begreiflicherweise beisammen bleiben. Weitere zwei Tage verstrichen, dann kam der Befehl: Morgen früh um fünf Uhr ist Aufbruch ! Abermals ein mühsamer Marsch, dann waren wir am Ziel.

Weit, mühselig und voll Leid war der Weg bis hierher. Noch die Enkel werden davon erzählen, wie ihre Ahnen aus der Heimat vertrieben wurden und hierher kamen.

 

Quelle: Artikel aus "Trei da Hejmt",
   Mitteilungsblatt für den Heimatkreis Tetschen-Bodenbach/Sudetenland,
   Nr. 19 vom 20.10.1952 ff.

letzte Aktualisierung am 08.10.2004