Der rüstige Alte in Tyssa

 von Dr. Friedrich Blechinger

 

„Der rüstige Alte in Tyssa“ steht gedruckt neben dem Bild eines alten Mannes mit Hakennase und weißem Bart, in Hut und Cordsamtjacke, der umgeben von zahlreichen Meterholzstämmen und einem Hackstock, im Schatten dichten Laubes neben einem Haus auf einem Sägebock gerade so einen Meterholzstamm zersägt, das das Blatt 24. November bis 7. Dezember des vom Heimatverband Kreis Tetschen-Bodenbach herausgegebenen „Heimatkalender 1957“ darstellt.

Jeder Tyssaer hat in diesen Manne sogleich den „Alten Wendt, den Wendt-Julius“ und in der Landschaft die südliche Seite des Püschner-Hauses auf dem Hofer-Berg erkannt, in welchem Haus der Wendt Julius zuletzt bis zu seiner Vertreibung wohnte.

Das Bild ruft die Erinnerung an einen Mann wach, der eine markante Tyssaer Erscheinung, ein prächtiger Mensch und ein sudetendeutsches Original war. Etwas mehr von ihm als ein Bild sollte deshalb der Nachwelt übermittelt werden. Der alte Wendt war seit meiner Jugend mein väterlicher Freund; ich möchte deshalb mitteilen, was ich in meiner „Chronik meiner Jugend in Tyssa“ über ihn aufgezeichnet habe.

Der alte Wendt oder Wendt Julius, den ich seit meiner Volksschulzeit, also aus der Zeit vor 1914, schon kannte, war ein Original. Man erkannte ihn schon von weitem an seinem wilden Backenbart, der so üppig wucherte, wie man sich ihn an Zwergen vorstellt. Kam man näher an ihn heran, dann imponierte einem seine starke Hakennase und seine blitzenden schwarzen Augen, die aber auch recht schelmisch zwinkern konnten. Gekleidet war er meist recht schäbig, bei kühlem Wetter mit einem schwarzen Lodenmantel und speckigem Hut. Deshalb war er kein Umgang für die „feinen“ Leute des Ortes. Aber wer ihn näher kannte, war bald durch seine Intelligenz, Belesenheit, Lebensweisheit und Menschenkenntnis angezogen. Er war ein fanatischer Naturheilapostel und Vegetarier und, wie meist solche Leute, sehr mager, aber dabei doch kräftig, um den Nachbarn bei der Ernte oder beim Holzmachen helfen zu können. Er war unverheiratet, man hätte sich ihn auch inmitten seiner Vogelbälge und Vogelkäfige schwerlich mit einer Frau vorstellen können. Er sprach grundsätzlich nur im Tyssaer Dialekt, liebte den Wald, die Jagd und seine Vögel über alles. Jeden Vogel kannte er am Ruf. Er war ein sehr bekannter Tierausstopfer oder, wie man jetzt vornehmer sagt, zoologischer Präparator, der seinerzeit Vogelbälge aus dem ganzen Gebiet der ehemaligen österreichischen Donaumonarchie geschickt bekam. Gelernt hatte er seinen Beruf beim alten Heselbart in Auma, Thüringen. Seine Kunst, basiert auf genauer Beobachtung und Kenntnis der Vogelwelt, hätte jedem großen Museum Ehre gemacht. Deshalb hatten seine ausgestopften Tiere auch nichts Verkrampftes oder unmögliche Stellungen, sondern schienen wirklich zu leben. Es ist jammerschade, daß so ein Mann nicht studieren konnte, er wäre entweder ein bedeutender Zoologe oder Arzt geworden.

Mit 22 Jahren hatten ihn die Ärzte eines schweren Herzleidens wegen aufgegeben. Durch Kneippkuren und einfachste, rein vegetarische Lebensweise, hat er ein hohes Alter erreicht. Er suchte auch anderen durch die an sich selbst erprobte Heilmethode zu helfen, wodurch er mitunter mit den approbierten Medizinmännern in Konflikt kam. Er ist 1945 freiwillig aus dem Leben geschieden. Auch ihn haben die Tschechen auf dem Gewissen. Nach seiner Ausweisung ist er noch einmal in seine Heimat zurückgegangen, um etwas zu holen, dabei wurde er verhaftet und nach Tetschen ins Gefängnis eingeliefert, wo er übel behandelt wurde. Um den Drangsalierungen zu entgehen, hat er sich vergiftet (Arsenik, als zu seinem Handwerkszeug gehörend, hat er sicher bei sich gehabt).

An seine Stube im alten Wendt-Haus (etwas unterhalb der Tyssaer Dorfstraße zwischen Schenker Walter (Hiebsch) und der späteren Konditorei Umlauft), wo ich ihn als Volksschüler zum ersten Mal besuchte, um einen ausgestopften Vogel zu erwerben, kann ich mich nicht mehr erinnern. Beim Bäcker Berger (neben der Charles-Villa) hauste er in einem Raum, zu dem man über eine Stiege aus Bergers Wohnstube aufsteigen mußte wie zu einem Podium. Dort oben saß er an einem langen Tisch, meist mit einer bei Jägern üblichen Pfeife im Munde und arbeitete. Während er so an den Vogelbälgen herumhantierte, unterhielt er sich gern mit Gesinnungsfreunden über Vogelkunde, Naturheilmethoden oder interessante Ereignisse oder Beobachtungen. Oft besuchte ihn auch Fachlehrer Michel aus Bodenbach, der etwas vom Ausstopfen verstand und den er besonders im Zusammenhang mit der gemeinsamen Präparation einer Klapperschlange erwähnte. Eine weitere seiner Leidenschaften war die Musik. Er besaß eine Geige und gab Geigenunterricht, aber ich selbst habe ihn nie spielen hören. Nach Berger wohnte der Wendt Julius am Waldrand des Hofer-Berges bei Püschner. Hier enthielt sein Arbeitsraum einen Tisch zwischen zwei Fenstern, drei Stühle, eine Bank, einen Schrank mit allerhand Kram, einen kleinen Eßtisch und einen Ofen. Die Fenster waren dick mit Vogelkäfigen behangen, am liebsten pflegte er Kreuzschnäbel. Über allem lastete eine feine Staubschicht, obwohl ihm einmal in der Woche eine Frau die Stube sauber machte. Ich besuchte hier den alten Wendt bis Dezember 1944. In den letzten Jahren hat er fast nicht mehr ausgestopft. Der Zusammenbruch der österreichischen Monarchie hatte auch seinem einst blühenden Gewerbe einen schweren Schlag versetzt. In der Tschechenrepublik siechte es dahin und im zweiten Weltkrieg kam es ganz zum Erliegen. In der guten alten Zeit hing seine Stube voll von ausgestopften Vögeln und viele seltene Exemplare waren da zu sehen und viel war da bei Wendt Julius zu lernen in vergleichender Anatomie und Systematik.

Er war auch ein guter Zeichner; in seiner Skizzenmappe sah man Vögel in allen möglichen Stellungen, ebenso Studien von Vogelköpfen oder Fängen. Hierin zeigte er sich dem Tiervater Brehm verwandt, mit dem er auch die scharfe Beobachtungsgabe sowie im Äußeren viel gemeinsam hatte. Er liebte Katzen; wenn er auch nicht selbst welche hielt, so waren doch die Katzen der Nachbarsleute bei ihm gern gesehene Gäste. Er wußte auch die Katzen so zu ziehen, daß diese seine Vögel in Ruhe ließen und zwar durch den einfachen Trick, daß er den Katzen einen etwa gefangenen Vogel wegnahm und um die Ohren schlug.

Das Ausstopfen soll man sich nicht so einfach vorstellen. Keineswegs ist es etwa so, daß in einen Vogelbalg solange etwas Werg hineingestopft wird, bis nichts mehr hinein geht. Der Körper des Vogels wird vielmehr nach den genauen Körpermaßen aus Kork geschnitzt oder vielleicht aus Holz und Bast genau dem vom Balg befreiten Vogelkörper nachgebildet. Die Glieder werden mit Draht angesteckt. Dieser Draht ist an der entsprechenden Stelle soweit mit Bast umwickelt, daß die Dicke des nachzubildenden Gliedes erreicht ist. Zirkelähnliche Dickenmesser gehören deshalb zum Handwerkszeug des Ausstopfers. Auch der Kopf z.B. eines Kleinsäugers wird genau nach dem Schädel aus Kork geschnitzt. Zu beachten sind genaue Größe und Farbe der Glasaugen. Bei einigen Tieren sind einzelne Teile nachzulackieren, z.B. die Ständer der Wasservögel. Bei Einbau insbesondere von Tiergruppen in den Lebensraum ist dieser naturgetreu nachzubilden. Der alte Wendt bezog, was er nicht aus eigener Beobachtung kannte, aus seinem „Brehm“, seiner Bibel, denn mit der Kirche hatte er nichts zu tun. Die Bälge selbst sind kunstgerecht zu beizen gegen Fäulnis und zu vergiften gegen Tierbefall. Schließlich ist jedem Tier eine charakteristische Stellung zu geben, die entweder aus eigener Beobachtung oder aus einer guten Abbildung bekannt sein muß. Der Tierkenner würde ein Präparat, das nach Konservierung durch Ausstopfen gerade nur auf eine Unterlage gesetzt ist, zurückweisen. Lassen wir uns vom alten Wendt mal erzählen, was er gerade an Falken ausgestopft hat: „Da dou ejs a Sparber, da kleene Brura vom Habicht danabn. Kenn` Se den dou ? Dos ejs a Meisebussard. Und da danabn a Rauhfußbussard. Da kimmt ock ein Winta douha. Sahn Se ock de Leise on, die sein bis nunta besiedat. Da helle mit dan gelben Aachen is a Wespenbussard. Hon Se dan dou schun gesahn ? Niche ? No ora ! Dos ejs a Turmfalke, ma heeßt se bei uns Rittelgeier, die horsten doch ein Wänden ! Dou sahn Se an Baumfalk, da heeßt aa Franzouse, weil a rute Housen onhout. Dan hon se nachten gebrucht, a hotte sich an Fliechel darrant, wuhl on Telegraphendrohte, das ejs Lura (zeig)“.

Wenn es gerade Mittagszeit ist, wird uns der alte Herr gerne zu seinem Hering mit Pellkartoffeln einladen: „Wunn Se mitassen ? Ich gah`s Ihn` garne. Reechern Se. Se kinn sich eene Pfeife stoppen.“ Nun „reechert“ er schon lange nicht mehr, der alte Wendt, von dem man nur als dem alten Wendt denkt und der doch auch einmal jung war. Aber der Bart hat ihn eben immer älter erscheinen lassen als er jeweils wirklich gewesen ist.

Anmerkung: Julius Wendt wurde am 19.12.1869 in Tyssa geboren. Er wurde 75 Jahre alt.

 

Quelle: Artikel aus "Trei da Hejmt",
   Mitteilungsblatt für den Heimatkreis Tetschen-Bodenbach/Sudetenland,
   10. Jahrg. Folge 23/24; Weihnachten 1957

letzte Aktualisierung am 14.06.2005